Das letzte Geleit
Es ist morgens halb sechs, dem Aktivistenwecker ist es egal, dass Samstag ist, er klingelt unerbittlich schrill.
Kurz gestreckt, dann ab ins Bad, same procedure as every morning.
Um kurz vor halb sieben sitze ich hinter dem Steuer, den Kaffee in der Halterung vor mir.
Nach 30 Kilometern der erste Stopp, eine Mitaktivistin steigt zu. Außer einem müden „Morgen“ reden wir nicht besonders viel. Vor uns liegen noch 110 Kilometer.
Es geht nach Kellinghusen, wo wir gemeinsam mit anderen Tierrechtlern vom animal save movement ein paar Stunden vor dem dortigen Schlachthof stehen, um den Schweinen, die dort täglich zu Hunderten angeliefert werden, das letzte Geleit zu geben, ein Vigil abzuhalten.
Wir hoffen, dass einige Lkw´s unserer Bitte nach zwei Minuten mit den Tieren nachkommen und wir die Möglichkeit haben, ihnen noch ein letztes Mal ein freundliches Wort und eine liebevolle Berührung zukommen lassen zu können.
Ein letztes Mal, bevor sie sterben, bevor sie getötet werden, hier hinter diesen Mauern.
Ein letztes Mal, das vermutlich einzige Mal in ihrem Leben, dass sie Würde erfahren.
Ein letztes Mal den Todgeweihten in die Augen sehen zu können, bevor sie weiter Teil der Produktionskette „Ware Tier“ werden.
Wir versuchen, Fotos zu machen, zu filmen, um ihr Elend, ihre Not, öffentlich zu machen, ihnen eine Stimme zu sein. Um zu zeigen, in welchem Zustand sie bereits im Schlachthaus ankommen. Sie sind schon kaputt, bevor ihr Leben endet, ihre Augen und ihre Körper sprechen oft eine deutliche Sprache.
Einige wenige haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, recken ihre Nasen neugierig durch die dicken Eisenstäbe. Sie schauen uns freundlich an, arglos, genießen das Licht und die Sonne, oft zum ersten Mal in ihrem Leben.
An diesem trüben, kalten und regnerischen Samstag hält kein einziger Transporter an, wir stehen stumm mit unseren Schildern, die von Mitgefühl und Empathie erzählen. Kein Fahrer kommt unserer Bitte nach einem Moment mit den Tieren nach, sie brausen mit hoher Geschwindigkeit an uns vorbei auf das Gelände des Schlachthofs, das für uns tabu ist.
Die Schranke schließt sich schnell und wir können nur zuschauen, stumme, ohnmächtige Zeugen, die den Opfern nur hinterhersehen können. Es ist viel los an diesem Samstagmorgen, dem vorletzten im November, man merkt deutlich, dass Weihnachten, das Fest der Liebe, nicht mehr weit ist.
Dementsprechend lang ist die Schlange der Transporter, die auf das Abladen der Schweine warten. Genauso lange müssen die Tiere auf den LKW´s warten, sie werden zusehends unruhiger, beginnen hier und dort zu schreien. Sie ahnen bereits, dass sie verraten wurden, dass dies ihre letzte Fahrt war. Niemanden interessiert hier ihre Angst, ihre Unruhe, ihr Schreien.
Zwei Fahrer sind ausgestiegen, stehen vor einem LKW, scherzen und lachen. Sie rauchen, unterhalten sich angeregt. Und schnippen ihre Zigaretten in den Transporter zu den Tieren. Ein Schwein schreit, wir melden das umgehend den anwesenden Polizisten, die unsere Vigils regelmäßig begleiten.
Dieses Mal sind es sehr viele Uniformierte, obwohl uns regelmäßig bescheinigt wird, dass wir friedlich sind, man mit uns keinen Ärger hat und wir uns vorbildlich benehmen.
Nach vier Stunden beenden wir unsere Aktion für diesen Samstag. Wir sind durchgefroren, nicht nur äußerlich. Die Stunden vor dem Schlachthof berühren immer unsere Herzen und Seelen. Manche weinen, traurig ist jeder von uns, wir machen uns auf den Heimweg. Auf der Autobahn begegnen uns zahlreiche Tiertransporter, wir versuchen uns abzulenken mit Gesprächen.
Zu Hause angekommen, begrüßen mich unsere Hunde. Ich sehe sie an, sehe ein fühlendes Wesen mit Emotionen, die meinen ähnlich sind, sehe außer dem äußerlich anderen Kleid keinen Unterschied zu den Schweinen vorhin, die nun vermutlich bereits nicht mehr leben, die ihr Leben bereits gelassen haben, ein Leben, das nie eines war.
Ich muss weinen und erneuere still mein Versprechen, nicht aufzuhören, sie zu sehen, als das, was sie sind, ihre Geschichte zu erzählen.
Zu erzählen, dass sie nicht anders sind als wir, als unsere Hunde, unsere Katzen. Lebewesen, wie wir.
Und ich hoffe, dass wenigstens einer, der ihre Geschichte hört, sich daran erinnert beim nächsten Einkauf, bei der nächsten Mahlzeit. Und vielleicht irgendwann auch ihre Geschichten erzählt.
Einen friedlichen, besinnlichen und vielleicht auch nachdenklichen ersten Advent.
Kristina Schnoor von kettenlos