Aktuelle Meldung
Vorweihnachtszeit
Musik. Und Wärme. Ein wenig, wie eine laue Sommernacht. Nela versuchte sich zu orientieren. Wo war sie? Eigentlich war es ihr egal, so angenehm weich und behütet fühlte sie sich. Alles war in ein diffuses Licht getaucht, das allerdings von Sekunde zu Sekunde heller und auch irgendwie unwirtlicher wurde. Die Musik hatte bereits ihren Wohlklang verloren und es gelang Nela nicht länger, damit nicht ihren Wecker in Verbindung zu bringen. Es war 5:45 und ihre Nacht war damit vorüber, was sich nicht länger leugnen ließ, auch wenn die dicke Bettdecke mit ihrer Wärmer noch etwas von den Resten des schönen Traums konservierte. Allerdings war auch das vorbei, als Nela sie zurückschlug und mit den Zehen nach ihren Pantoffeln hangelte, um ja nicht mit den kalten Fliesen in Berührung zu kommen. Der nächtliche Zufluchtsort löste sich endgültig in Luft auf, als sie im Badezimmer stand und ihr Atem kleine Kältewölkchen vor dem Spiegel überm Waschbecken aufsteigen ließ.
Ein neuer Tag mit der altvertrauten Müdigkeit, die seit Monaten nicht mehr zu verschwinden schien und die sie den Tag über begleitete und nur Nachts eine kleine Auszeit nahm.
Nela spritzte sich ein wenig kaltes Wasser ins Gesicht und band ihre dunklen Haare lose am Hinterkopf zusammen, tuschte sich mit der linken Hand die Wimpern während sie rechts die Zahnpasta auf die Bürste drückte. Als die Katzenwäsche fertig war, schaute sie kurz zu ihrem kleinen Kleiderschrank hinüber, entschied sich aber wie die letzten drei Tage für das unordentliche Bündel neben dem Waschtisch, das sie gestern Abend dort ausgezogen und liegengelassen hatte, ein grauer Hoodie und eine Jeans, die ihre besten Zeiten lange gesehen hatte.
Sie war gerade dabei ihren Kaffee einzuschenken, als das Telefon klingelte. Nela sah auf die Uhr und seufzte:" Hmh, neuer Rekord, noch vor sieben." Sie hatte noch nicht Hallo gesagt, da donnerte schon die bärige Stimme ihres Kollegen aus dem Hörer:" Bist du schon unterwegs? Ich warte an der Ecke vor der Tankstelle auf dich, wir müssen in den Stadtpark, da liegt eine Katze bei dem großen Spielplatz, die sich nicht mehr bewegen kann, sie lebt aber noch. Die fahren wir dann gleich zu Doktor Brenz, ich hab da schon Bescheid gesagt."
Es schien nicht der schlechteste Morgen zu sein, denn der alte Renault Kangoo sprang bereits beim zweiten Mal an. Als dann "Last Christmas" das erste war, was aus dem Radio tönte, musste Nela tatsächlich lächeln beim Gedanken, dass man nicht nur Glück haben konnte. Um diese Uhrzeit kam sie flott voran, die vielen Weihnachtsbeleuchtungen ließen die sonst noch recht leeren Straßen nicht so trostlos wirken. Kurze Zeit später saß Dimi neben ihr und berichtete von der Meldung der verletzten Katze. Der große, über und über tätowierte Hüne redete zum Glück auch
nicht viel um diese Tageszeit, eigentlich überhaupt nie. Wenige Minuten später trafen sie am Bahnhof ein. Ein Obdachloser, der wohl die Nacht dort verbracht hatte, winkte sie zu sich. " Ich habe den kleinen Kerl hier zu mir in den Schlafsack geholt, er lag eine ganze Weile dort drüben und bewegte sich nicht mehr. Ein Kumpel von mir hat erzählt, dass er da schon mindestens einen ganzen Tag lang liegt, es hat wohl niemanden gekümmert. Naja, er sagt ja auch nichts, nicht mal zu kratzen hat er versucht." Vorsichtig griff Dimi nach dem roten Kater, der sehr dünn war aber sonst keine sichtbaren Verletzungen aufwies. Seine Augen waren verkrustet und sein Fell sah sehr struppig und ungepflegt aus. Er schien in einer Art Dämmerzustand zu sein, der Obdachlose berichtete, dass er nur sehr langsam und wenig gefressen hatte. Mit dem roten Kater in einer Decke auf dem Rücksitz machten sich Dimi und Nela auf den Weg in die Tierklinik. Dort angekommen trug Nela den Kater hinein. Kurz bevor sie ihn der Helferin übergab, drückte sie ihn nochmal an sich und flüsterte ihm "viel Glück" zu. Der Rote öffnete ganz leicht die Augen und sah sie aus sehr, sehr alten und müden Augen an und Nela wusste, dass er hier unten kein Glück mehr brauchen würde. " Komm gut rüber, alter Junge, es tut uns leid, dass wir zu spät sind!"
Der Tag war noch keine drei Stunden alt und sie war bereits soweit, dass sie sich wieder zurück unter ihre Bettdecke wünschte.
Die nächsten Stunden flogen zwischen Büroarbeit, Futterverteilung, Putzen der Zwinger, Medikamente stellen und kurzen Streicheleinheiten für einige Hunde und Katzen dahin, zwischendrin immer wieder das Telefon, das meist nichts Gutes verhieß. Es wurden Fundtiere gemeldet oder überfahrene Katzen, bei denen es zumindest jemand für angemessen gehalten hatte, sie von der Straße zu holen. Drei weitere Hunde sollten heute gebracht werden, obwohl sie kaum noch Kapazitäten im Tierheim hatten. Bei Zweien wusste man nicht, zu wem sie gehörten, einer irrte auf der Straße vor einem Supermarkt umher, eine Hündin war angebunden an einem Parkplatz gewesen und ein Schäferhundopi sollte beschlagnahmt werden, weil sein Besitzer sich aufgrund von Alkohol und Drogen nicht mehr vernünftig um ihn kümmern konnte und der Hund bereits auffällig geworden war. Und auffällig war eigentlich das Synonym für lebenslänglich. Lebenslänglich ohne schuldig zu sein, aber das zählte nicht.
Das alles hatten sie bis zum Mittag abgearbeitet. Kurze Auszeit bei einer Tütensuppe und natürlich Kaffee. Dimis Handy klingelte. "Ein Verkäufer der "Hempel´s" hat gemeldet, dass eine Taube in einem Nebeneingang einer Bäckerei im Bahnhof kauert. Er weiß nicht, was er tun soll, ich habe ihm gesagt, für Tauben sind wir nicht auch noch zuständig!" "Ist denn überhaupt jemals jemand zuständig?" Nela hatte bereits den Autoschlüssel in der Hand und Dimi brummte, dass er dann Bürodienst machen würde. Mit der genauen Adresse im Gepäck war Nela wenige Minuten später auf der Straße. Am Bahnhof angekommen hielt sie Ausschau. Eine graue Armee tippelte gehetzt durch die Bahnhofshalle und suchte verzweifelt nach weggeworfenen Pommes, Brotresten oder Kekskrümeln, nach allem, was Menschen an Essbarem achtlos hinterlassen hatten. Nela hatte auch schon gesehen, wie sie an Erbrochenem pickten, weil der Hunger und die Not zu groß waren. Der Anblick der Stadttauben machte Nela jedes Mal traurig, weil sie von den meisten Menschen nicht einmal wahrgenommen wurden. Und wenn sie sie doch sahen, dann wurden sie verscheucht oder getreten. Füttern war verboten, die Stadt wollte die Tauben so loswerden, Schädlingsbekämpfung nannten sie das oder aber schöner "Vergrämung".
Nach ein paar Minuten hatte sie die gemeldete Taube entdeckt, sie flog nicht fort, weil sie es einfach nicht mehr konnte. Als Nela sie aufgenommen hatte und sie vorsichtig begutachtete, konnte sie an ihren wunden und entzündeten kleinen Füßchen die Schmerzen ermessen, die diese graue Taube, die sie aus ängstlichen Knopfaugen fragend ansah, haben musste. Nela setzte sie , wieder am Auto angekommen, in einen dunklen Karton, den sie mit einem weichen Handtuch nestartig ausgepolstert hatte und machte sich auf den Weg zu einer befreundeten Tierärztin, die sich um verletzte Stadttauben kümmerte. Auch hier nahm sie sich die Zeit, der kleinen Henne alles Gute zu wünschen und sich zu entschuldigen, dass sie so lange solche Schmerzen aushalten musste. Auf dem Weg zurück ins Tierheim berichtete der Nachrichtensprecher im Radio über Veröffentlichung von Undercoveraufnahmen von Tierrechtlern bei einem Milchbauern. Die Tiere standen monatelang knietief in ihren eigenen Fäkalien, hatten Entzündungen und offene Wunden und waren zum großen Teil unterernährt. Wieder einmal. Im Tierheim angekommen platzte Nela in eine Auseinandersetzung zwischen Dimi und einer Frau mittleren Alters. Das Gesicht kam Nela bekannt vor, die Dame hatte ein paar Wochen vorher einen kleinen, dicklichen West Highland Terrier adoptiert, den sie am Abholtag fast schon zu Tode geknutscht und geherzt hatte. Nun saß der Kleine allerdings in einer Ecke und bellte aufgeregt, er hatte auch das Mäntelchen nicht mehr an, dass bei Abholung damals extra für ihn mitgebracht worden war. " Ich kann sowas nicht gebrauchen, der pinkelt mir alles voll, auch auf die teuren Teppiche. Er hat keinen Respekt, ein wenig Dankbarkeit kann man ja wohl erwarten, wo ich ihn hier rausgeholt habe. Das hat er sich selber versaut" Dimi sagte die ganze Zeit über nichts, seine Kieferknochen mahlten allerdings verdächtig rauf und runter. "Sind Sie fertig? Dann können Sie gehen, besser jetzt als gleich." Die Frau war sichtlich verwirrt, wollte noch etwas sagen, besann sich dann aber eines besseren und rauschte mit wehendem Mantel davon. "Ach mensch, Dimi, nun haben wir den Abgabevertrag nicht und müssen dem wieder hinterherrennen, du solltest dich besser im Griff haben!", murrte Nela, auf der das vermutlich nun hängen bleiben würde. Dimi war derweil schon mit dem kleinen Terrier in Richtung der Zwinger verschwunden.
Mit Büroarbeit, einer weiteren Meldung eines Tieres in Not, dieses Mal war es ein Papagei, der in einem viel zu kleinen Käfig ohne Gesellschaft gehalten wurde, und der letzten Runde durch die Zwingerreihen ging ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag für Dimi und Nela zu Ende.
Auf dem Heimweg sah Nela Menschen mit Tüten beladen von Geschäft zu Geschäft hetzen, dazwischen Bettler und Obdachlose, die zum Teil auch Hunde dabei hatten und das alles umrahmt von Lichterglanz, Glühweinduft und Weihnachtsmusik.
Um dem Stau in der Innenstadt zu entgehen, nahm Nela die Umgehung, aber auch hier floss der Verkehr eher zäh als flüssig. Vor einer Baustelle kam Nela zum Stehen ausgerechnet hinter einem Todestransporter, der lustige Comicschweinchen hinten auf der Tür hatte, und einen Text, der vermuten ließ, dass die Schweine hier einen kleinen Freizeitausflug machten. Als Nela ihn überholte, schaute eines der Schweine zu ihr herüber, sah ihr direkt in die Augen. Ein Blick voller Angst, aber auch Erwartung. Nela trat auf´s Gas und wollte nur noch heim. Heim in ihre kleine Wohnung, von der Welt nichts mehr sehen.
Aber sie bog vorher ab und nahm einen ganz anderen Weg. Der führte sie raus aus der Stadt, weg von den Lichtern. Nach einer Weile war sie am Ziel. Das kleine Häuschen lag am Rande einer Ortschaft, man sah, dass jemand zu Hause war, weil hinter den Fenstern und auch hinten im Stall Licht brannte. Hier sah alles aus wie immer, keine Weihnachtsglitzerwunderwelt, nichts, was darauf hindeutete, dass in einer Woche Heiligabend war. Nela atmete gierig die kalte Nachtluft ein und wurde Zug um Zug ruhiger. Mit schnellen Schritten war sie am Stall angelangt und traf dort auch gleich auf Klaas, der gerade ein Schaf behandelte, dass eine Klauenverletzung hatte. Er sah Nela und wusste sofort, was los war." Wieder einer von diesen Tagen?" " Ja, die gibt es gefühlt in den letzten Wochen nur noch. Was stimmt mit den Menschen nicht? Reden von Weihnachten, von Liebe und Mitmenschlichkeit, handeln aber ganz anders."
Klaas brummte etwas unverständliches. Einen Moment später kam Moni um die Ecke, einen Becher mit dampfendem Tee in der Hand, den sie Nela reichte:" Ich hab dein Auto gesehen, hier, für dich, kannste jetzt gut brauchen, oder?"
Nela sagte nichts. Sie saß einfach nur da, nippte an ihrem Tee und auch als Klaas und Moni das Licht bis auf eine kleine Lampe am Außenbereich gelöscht hatten und ins Haus gegangen waren, genoss Nela die Wärme des Stroh, den Geruch und das Geräusch, dass die Schafe machten beim Futtern der Heuhalme. Hier war nichts geschmückt, nichts retuschiert oder geschönt, aber so weihnachtlich, wie in diesem Moment war ihr in der ganzen Adventszeit nicht gewesen. Die Ruhe und den Frieden, die sie auf diesem kleinen Lebenshof fand, gab ihr Kraft zum Auftanken, zum Weitermachen in einer Welt, in der es nur den Menschen gab und Tiere nur Mittel zum Zweck waren. Sie konnten entweder gegessen werden, ihre Haut und ihr Fell waren super für Kleidung und Accessoirs, die Milch, die für ihre Babies hätte sein sollen, schmeckte vorzüglich im Kaffe, ihr Fell machte sich gut als Bommel an der modischen Mütze und ihre Haut konnte für Schuhe, Jacken und Hosen verwendet werden. Die Liste war lang. Und selbst die Tiere, die von uns geadelt worden waren und die mit uns Haus und Hof teilen durften, waren bei den meisten doch auch nur ein Anhängsel, dass entsorgt wurde, wenn es nicht nahtlos in den durchstrukturierten Alltag passte. Genau das erlebte Nela jeden Tag. Als sie eine gute Stunde später in die kleine, gemütliche Küche des angrenzenden Wohnhauses trat, kamen ihr sofort mehrere fröhlich wedelnde Hunde entgegen, die sie begrüßten. Moni hatte bereits einen Teller für Nela bereit gestellt. "Magst du mit uns essen?" Nela nickte. Und Klaas fügte lächelnd hinzu:" Na, und erzählen, was heute so passiert ist?"" Die Menschen sind passiert, weißt du doch, wie jeden Tag." Klaas und Moni nickten, sie wussten, was Nela meinte. Nach einem guten Essen und noch etwas Nervennahrung, machte sie sich auf den Rückweg. Bevor Klaas die Tür hinter ihr schloss, drückte er sie zum Abschied:" Ich hoffe, wir sehen uns Weihnachten. Und vergieß nicht, was ich dir gesagt habe, das hilft für den Moment und lässt einen weitermachen." Nela nickte.
Als sie zuhause angekommen war, zog Nela ihre Klamotten aus und warf sie neben den Waschtisch. Als sie ihren flauschigen Jogger angezogen hatte, machte sie genau das, woran Klaas sie beim Abschied erinnert hatte. Sie holte das Album raus mit den vielen Fotos und Notizen. Da waren Bilder von Tieren, mit Namen und Daten versehen. Tiere, wie Schafe, Hunde, Kühe, Schweine aber auch Katzen, ein Esel, viele Tauben und andere Vögel, Kaninchen und Mäuse blickten ihr von manchmal schon abgegriffenen Hochglanzfotos entgegen. Alle hatten einen Namen. Alle diese Tiere waren von Menschen benutzt und ausgenutzt worden. Aber auch Menschen hatten diesen Tieren geholfen, waren rechtzeitig gewesen, um ihnen tatsächlich noch ein Leben zu bieten. Menschen, wie Nela. Dimi, Klaas und Moni. Nach einer Weile nahm Nela ein Blatt und einen Stift, zündete eine Kerze an und schrieb: Für dich, Sparrow, kleiner roter Kater, für dich, Pico, wundervolle Taube mit den sanften Augen, für dich, Silas, kluges, neugieriges Schwein. Ich kann euch nicht mehr helfen, aber ich möchte euch einen Namen geben, damit ihr als Jemand und nicht als Etwas geht. Für euch kamen wir zu spät. Ich hoffe, ihr kommt gut rüber, diese Kerze brennt heute Nacht für euch. Und bei euch anderen, denen wir heute noch helfen konnten, hoffe ich, dass ihr Menschen finden werdet, die euch einen Namen geben, die euch sehen und die nicht wegschauen, so wie die Menschen, die euch heute gesehen haben. Sie heftete den Zettel mit ihren Notizen in das Album, sah noch einen Moment in das Licht der Kerze, die sie in die Fensterbank gestellt hatte. Sie dachte nicht mehr an die große Masse der Menschen, denen diese Lebewesen egal gewesen waren. Sie dachte stattdessen an die, die sie sahen, denen es egal war, ob sie gefleckt, rosa oder schwarz waren, ob sie Federn oder Fell oder Borsten hatten. Denen das Herz, was darin schlug, wichtig war und nicht das Kleid, in das sie gehüllt waren. Sie wusste, dass sie mehr wurden, langsam, aber stetig. Und sie dachte auch an den Verkäufer der Zeitschrift Hempel´s und den Obdachlosen aus dem Park, Menschen, die selber kaum etwas hatten und trotzdem nicht wegschauten. Und im Schein der Kerze lächelte Nela zum ersten Mal an diesem Tag.
In dieser Nacht schlief sie seit langem wieder ruhig und tief.
Kristina Schnoor von kettenlos
Wir wünschen Ihnen und euch einen besinnlichen dritten Advent!