von offenen Augen und Herzen
Wir sehen nur, was wir sehen wollen.
Bis uns irgendwann die Augen wirklich geöffnet werden. Dann sehen wir mehr, viel mehr, und fragen uns, warum man blind sein kann ohne es zu wissen…
Der Weihnachtsmarkt ist überall Inbegriff für Gemütlichkeit und Geselligkeit in der Adventszeit, nicht nur bei uns.
Weihnachtsmusik, Lichterglanz und Weihnachtsdüfte sind das Erste, was man wahrnimmt bei einem Besuch dort. Gerade die Düfte locken und lassen das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Auch die Streuner werden von den Essensgerüchen angelockt, die, die wirklich Hunger haben, gerade jetzt im kalten Winter. So auch der große, graue Bruno, die kleine, weiße Emmi und ihre Freunde.
Sie bewegen sich unauffällig zwischen den Besuchern, meistens mehr am Rand, um nicht verjagt zu werden.
Eigentlich gehören sie zum Straßenbild dazu in dieser Gesellschaft. Man nimmt sie kaum noch wahr, nur, wenn sie zu offensichtlich nach Essbarem betteln, registriert man, dass sie da sind. In der Regel werden sie von den meisten Menschen dort sehr schnell verjagt. Sie mögen sie nicht, wollen sie nicht zu dicht bei sich haben, wollen sie schon gar nicht anfassen.
Auch wenn unter den Streunern offensichtlich Kranke sind, die sich nur mühsam fortbewegen können, die dünn sind und struppig aussehen, erregt es bei den Meisten nicht Mitleid, sondern Ekel.
Auch Bruno hat Mühe zu laufen, seine Füße schmerzen, er ist müde und erschöpft von der Suche nach Futter. Emmi geht es ebenfalls nicht gut, ihre Augen sind glanzlos und sie humpelt stark. Anstatt zu helfen, schlägt oder tritt man nach ihnen und scheucht sie weg.
Kinder, die interessiert nach dem gutmütigen Bruno schauen, gern dichter zu ihm gehen möchten, ihn streicheln wollen, werden von ihren Eltern weggezogen und ermahnt, dass es gefährlich sei, dass er Krankheiten haben könnten.
Dass der alte Bruno, Emmi und auch viele der anderen Streuner einmal ein Zuhause hatten, interessiert sie nicht. Sie sehen nicht, dass sie sie nicht ärgern wollen mit ihrer Anwesenheit, dass sie sie nicht bedrängen wollen, sondern aus reiner und purer Not und Verzweiflung in dieser blinkenden und lauten Umgebung nach Essensresten suchen.
Die Behörden unternehmen in den meisten Regionen rein gar nichts, um die Not dieser Streuner zu lindern, im Gegenteil, es wird in Kauf genommen, dass sie elendig verhungern, es scheint sogar gewünscht zu sein.
Bruno, Emmi und die anderen hatten ein Heim, einen Ort, an dem sie einmal zu Hause waren, bis ihre Menschen ihrer überdrüssig wurden oder sie nicht das leisteten, was von ihnen verlangt wurde.
Seitdem leben sie auf der Straße, werden selten einmal gefüttert oder ärztlich versorgt, meistens aber getreten und vertrieben. Auch Brunos Geschichte ist so ähnlich. Er hatte bis vor einiger Zeit eine Freundin, sie waren über die Monate zusammengewachsen.
Beide landeten auf der Straße, weil sie ausgedient hatten, zu alt wurden. Emmi war von vornherein schwächer gewesen als Bruno, ihre Pfoten waren schon lange entzündet und eines Tages wurde sie von Jugendlichen getreten und verjagt. In Panik war sie geflüchtet in einen angrenzenden Park.
Am darauffolgenden Tag hat Bruno sie dort liegen sehen, ganz steif bereits, die Augen geschlossen. Sie war zu schwach und hat die Tritte und die panische Flucht nicht überlebt. Auch Bruno mag nicht mehr, er ist nicht der Jüngste und zudem trauert er sehr um seine Gefährtin.
Warum sind Menschen dort so herzlos ?
Warum behandeln sie sie nicht wie Familienmitglieder? Warum sehen sie sie mit anderen Augen?
Ich weiß es nicht.
Und ich weiß ebenso wenig, warum man Bruno, Emmi und ihre Freunde nicht mit Freude sondern oftmals mit Hass ansieht, sie haben niemandem etwas getan, können sich selbst nicht helfen und versuchen, einfach zu überleben.
Denn Bruno und Emmi sind Stadttauben und stehen stellvertretend für das große, stille Leiden dieser sanften und friedlichen Tiere überall unter uns.
Wie offen sind unsere Augen denn tatsächlich? Und wie gut sehen unsere Herzen?
Es gibt in jeder Stadt einen Bruno, eine Emmi und viele ihrer Freunde. Vielleicht gibt es nach dieser Geschichte auch in einigen Städten mehr Menschen mit offenen Augen und Herzen.
Das ist einer meiner Weihnachtswünsche!
Einen besinnlichen dritten Advent!
Kristina Schnoor